„Emanuel Macron“, sage ich zu meiner Schülerin, „ist doch ein junger, attraktiver Mann.“ „Ja, aber er hat kein Herz. Da nützt das Jung-sein nichts, wenn man kein Herz hat.“ Sagt A. A. ist 17 Jahre jung und kommt aus dem Irak. Mohammad ist ihr Gott und der ist ihr heilig. Sie möchte keine Karikaturen ihres Gottes sehen. Mir ist mein Gott nicht heilig. Mit „mein Gott“ meine ich den Gott, den man mir ab dem Zeitpunkt meiner Geburt als „meinen Gott“ vorgestellt hatte. Mein Vater war Atheist und meine Mutter hatte Halt im katholischen Glauben gesucht und gefunden, bis sie dann mit Mitte dreißig Halt in etwas plastischerem, lebendigerem gefunden hatte.
Mich schickte sie trotzdem auf eine katholische Privatschule. In der katholischen Schule, so wurde mir erklärt, sind alle gleich. Alle tragen dieselben Uniformen und damit sind alle Unterschiede beseitigt. Ich wusste nicht, wer ich war, aber ich wusste, dass ich nicht gleich war. Nicht gleich wie die Mädchen, deren Eltern in dicken Autos hinterm Schultor auf ihre Prinzessinnen warteten und nicht genau gleich wie die Mädchen, die mit mir in den Bus drängten und sich um die letzten Plätze stritten. Meine beste Freundin lebte in der Wohnsiedlung mit dem denkbar schlechtesten Ruf der Stadt. Doch ihr Vater holte sie mit einem großen schwarze BMW ab. Ich wohnte in einem Reihenhaus im Nebendorf. Vor dem Haus stand ein kleines weißes Auto, an die Marke kann ich mich nicht mehr erinnern. Das Auto stand nie vor der Schule. Kein einziges Mal, soweit ich mich erinnere, wurde ich abgeholt. Jeden Freitag gab es in der ersten Schulstunde einen Hottesdienst. Der Besuch war freiwillig. Im Sommer traf ich mich mit meiner Freundin am Fluss und wir aßen unser Frühstück auf den Felsen am Fluss während manche unserer Klassenkameradinnen beteten.
Ich konnte den Zugang zu Gott nicht finden, nicht zu meinem Gott und auch zu keinem anderen. Vor Gott sind alle Menschen gleich, sagten die Klosterschwestern und der Pfarrer in meiner Schule. Aber wo war dieser Gott? In der Siedlung meiner Freundin trafen sich am Abend die Jugendlichen und hingen miteinander ab. Da gab es Skinheads und Jungs mit roten Haaren, die ausgelacht und gehänselt wurden. Meine Freundin und ich waren beliebt unter den Jungs, und manchmal luden sie uns auf ein Eis ein. Angebetet haben wir sie nicht.
Mit fünfzehn wechselte ich die Schule und hatte neue Freundinnen die nicht mehr in Wohnsiedlungen mit schlechtem Ruf wohnten. Sie wohnten überhaupt nicht mehr in Wohnsiedlungen. Sie wohnten in Einfamilienhäusern oder in Villen. In der weltlichen Schule waren die Unterschiede geringer als in der katholischen. Vor Gott, so dachte ich mir, waren alle weniger gleich als in der staatlichen Schule. Und ich sehnte mich nach der Ungleichheit zurück. Nach der Diversität. Wäre es nicht schöner, wenn vor Gott alle ungleich sein dürften? Bedeutet Gleichheit nicht auch die Erwartung an die anderen, dass sie so sind wie ich, und die damit einhergehende Enttäuschung, wenn sie sich als anders erweisen? Sollte es nicht eher heißen, Gott ist offen für die Ungleichheit und akzeptiert alle in ihrem Anders-Sein?
In Deutschland wurden Bauzäune um Wohnkomplexe errichtet, in denen sich eine große Anzahl der Bewohner mit dem Corona Virus infiziert hatten. Selbst vor dem Virus sind nicht alle gleich. In Monaco dürfen die Monegassen und Monegassinnen auch nach 20 Uhr – der derzeitigen
Ausgangssperre, noch zu Ende dinieren, wenn sie sich gerade in einem Restaurant befinden. In Göttingen versammeln sich die Einwohner eines Wohnkomplexes hinterm Bauzaun und starren durch die Gitter der Ungleichheit. In der Antike haben sich die Götter schon mal bekriegt und in
den Zeiten danach, bekriegten sich die Söhne und Töchter der Götter, weil sie wollten, dass alle den selben Gott verehren. Frieden gab es nie, aber der Krieg hatte sich vom Himmel auf die Erde verlagert.
Menschenrechtsbewegungen fordern gleiches Recht für alle. Ich fordere ein Recht auf Ungleichheit. In Wohnsiedlungen, egal ob in der Hämmerlestraße in Giesingen oder im abgeriegelten Wohnkomplex in Göttingen, kennen sich die meisten Menschen nur vom Wegschauen. Sie sind sich großteils so ähnlich, dass sie lieber Löcher in den Boden starren, als sich am Flur oder bei dem Müllcontainern selbst zu begegnen. Die Götter haben sich in ihrer
ursprünglichen Göttlichkeit aus diesen Wohnkomplexen schon mehr oder weniger zurück gezogen. In den meisten Fällen sind es eher Gegenden der vermeintlichen Gottlosigkeit, in denen diese Häuser stehen, in denen ein Fenster aussieht wie das andere. In denen hinter vergrauten Vorhängen Fensterpflanzen aus Kunststoff stehen, kleine Hunde um die Wette bellen
und Kinderaugen ins Leere starren. Es sind Fenster, hinter denen sich Wohnungen befinden, in denen der Fernseher Jahwe, das Handy Allah und Junkfood der Christengott ist. Die Götter sind auf die Erde gekommen und lassen sich dort nieder, wo sie gebraucht werden. Sie nehmen Gestalt an von Dingen, vor denen es sich lohnt sich zu verneigen. Dort, im verdichteten Wohnraum, wo man sie am wenigsten vermutet, werden sie lebendig (Heidi Wimmer, 2020).
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